Kommt es zum Blackout, wenn die Kernkraftwerke abgeschaltet werden?

Foto: IAEA Imagebank, Korea Ulchin NPP / Flickr.com

Noch gibt es in Deutschland drei aktive Kernkraftwerke: Isar 2, Emsland und Neckarwestheim. Zusammen haben diese eine Nettonennleistung von 4 Gigawatt und erzeugen jährlich eine Menge von 32,7 Terawattstunden. Der Nettostromverbrauch in Deutschland betrug im Jahr 2021 rund 508 Terawattstunden, die Kernkraftwerke liefern also etwa 6% des jährlichen Strombedarfs. Zum 31. Dezember 2022 müssen sie abgeschaltet werden, so wurde es 2011 von der damaligen Bundesregierung nach dem Reaktorunglück in Fukushima beschlossen. Zwei der drei Kraftwerke (Isar 2 und Neckarwestheim) sollen nach dem Plan des Bundeswirtschaftsministers Habeck zwar noch während des Winters als „Reserve“ bereitstehen, aber nur längstens bis Mitte April 2023. Danach muss die Energie, die bisher aus den Kernkraftwerken gewonnen wurde, anders erzeugt werden, vorzugsweise mit Erneuerbaren. Aber wird das klappen? Der deutsche Städte- und Gemeindebund warnt vor Blackouts im Winter und fordert eine Verbesserung des Katastrophenschutzes. Wie viele Windräder brauchen wir eigentlich, um die Kernkraftwerke sicher zu ersetzen?

Wie bei jeder guten Frage lautet die Antwort auf diese Frage: „Es kommt drauf an“. Denn was bedeutet „ersetzen“? Entweder wollen wir wissen, wieviel Windräder die gleiche Menge an Strom erzeugen wie die Kernkraftwerke oder wir wollen wissen, wieviele Windräder die gleiche Leistung sicherstellen wie die Kernkraftwerke.

Die Frage nach der Menge ist relativ einfach zu beantworten. Gemäß Kraftwerksliste der Bundesnetzagentur haben die drei Kraftwerke eine Nettonennleistung von exakt 4.056 Megawatt. Ein Kernkraftwerk kommt im Jahr auf etwa 8.070 Volllaststunden, so dass jährlich die bereits oben genannten 32,7 Terawattstunden erzeugt werden. Genauer: 32.731.920 Megawattstunden.

Die durchschnittliche Nettonennleistung von Windkraftanlagen ist im Laufe der Jahre deutlich angestiegen. In 2021 wurden 484 Anlagen mit einer Gesamtleistung von 1.925 MW installiert, entsprechend einer durchschnittlichen Anlagengröße von 4,0 MW pro Windrad. Windkraftanlagen erreichen jedoch eine deutlich geringere Zahl an Vollbenutzungsstunden pro Jahr: bei Offshore-Windrädern geht man von 3.600 Stunden aus, bei Onshore-Standorten sind es noch weniger, so dass im Durchschnitt 14.318 MWh Strom pro Windrad erzeugt werden. Für eine Erzeugung von 32.731.920 MWh pro Jahr benötigte man also 2.286 Offshore-Windräder (bzw. 3.292 Onshore-Windräder).

Bei der Frage nach der Leistung wird es kompliziert. Kernkraftwerke arbeiten witterungsunabhängig und können die Nennleistung im Prinzip nach Bedarf abrufen. Windenergieanlagen können immer nur soviel Energie erzeugen, wie die aktuelle Windgeschwindigkeit zulässt. Wieviel Prozent der Nennleistung eines Windrads sind also „sicher abrufbar“? Die für die Stromnetzstabilität in Deutschland zuständigen Übertragungsnetzbetreiber Amprion GmbH, TenneT TSO GmbH, TransnetBW GmbH und 50Hertz Transmission GmbH sind mit dieser Fragestellung schon länger konfrontiert und haben Überlegungen dazu angestellt, wie man die „sichere Erzeugungsleistung“ von Windkraftanlagen einschätzen kann. Im letzten, veröffentlichten „Leistungsbilanzbericht“ von 2019 weisen die vier Übertragungsnetzbetreiber aus, dass die eingespeiste Windkraft-Leistung für 1% des Betrachtungszeitraums unter 1% der installierten Leistung liegt. Während 1% der Zeit ist eine Windkraftanlage also praktisch nicht verfügbar (und in der restlichen Zeit auch nur anteilig). Kurz gesagt: Windräder sind nicht grundlastfähig! Für Photovoltaik-Anlagen gilt das sowieso.

Die – vielleicht instinktiv naheliegende – Argumentation „das kommt doch nur selten vor“ hat wenig Gewicht, denn in der Stromversorgung gibt es kein „einmal ist keinmal“: auch ein seltener, flächendeckender Blackout ist inakzeptabel. Das ist ein fundamentaler Unterschied zu anderen Infrastrukturen: beim Straßennetz beispielsweise ist gelegentlicher Stau (z.B. zu Beginn der Urlaubszeit) akzeptabel. Niemand würde fordern, dass jeder Stau um jeden Preis verhindert werden muss. Straßennetze werden daher an der durchschnittlichen Auslastung ausgelegt. Beim Stromnetz darf es aber niemals zu einer Überlastung kommen. Die Strominfrastruktur muss im Bedarfsfall die Spitzenlast bereitstellen und transportieren, denn anderenfalls entsteht ein Netzwerkeffekt, der das Gesamtsystem ins Straucheln bringt. Ein Stau auf der Autobahn A1 hingegen bedeutet nicht, dass es auf der A2 nicht weiterginge.

Auch das Argument „irgendwo weht der Wind doch immer“ ist nicht unbedingt richtig: es gibt durchaus Flauten, die sich über ganz Deutschland erstrecken (und das auch noch nachts, wenn die Photovoltaik nicht produziert). Auch wenn diese selten sind, muss trotzdem auch dann gesicherte Erzeugungsleistung zur Verfügung stehen. Es gibt kein „einmal ist keinmal“. Kurz gesagt: um die Kernkraftwerke durch Windräder zu ersetzen braucht man nicht nur 2.286 Windräder, sondern zusätzlich Reservekraftwerke, die praktisch die gesamte Nennleistung noch einmal witterungsunabhängig bereitstellen können. Bei einer Stromerzeugung aus Erneuerbaren ist eine Redundanz des Kraftwerkparks leider unvermeidlich. Insoweit ist Minister Habeck mit der Reservestellung der Kernkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim auf der richtigen Spur, er springt aber zu kurz.

Da es bereits heute einen großen Anteil von Erneuerbaren an der Stromerzeugung gibt, werden Reservekraftwerke auch jetzt schon bereitgehalten. Die Bundesnetzagentur ist zuständig für die Bedarfsprognose und Sicherstellung der Verfügbarkeit von genügend Reserveleistung. Für den Winter 2022/2023 beträgt der berechnete Bedarf an Erzeugungskapazitäten aus Netzreservekraftwerken 8.264 MW, also etwas mehr als sechs Kernkraftwerke. Heute wird der Reserveleistungs-Bedarf in der Regel durch fossile Kraftwerke in Deutschland und in Nachbarländern oder auch durch Kernkraftwerke (häufig französische), gedeckt, denn nur diese stehen witterungsunabhängig zur Verfügung. Wir ersetzen also Kernkraftwerke durch Windkraftwerke, müssen dann aber Kohle- und Kernkraftwerke weiterhin vorhalten, falls der Wind mal nicht weht (oder falls wir den Windstrom mangels Netzausbau nicht von Norden nach Süden transportieren können). Das ist aus offensichtlichen Gründen keine gute Lösung, denn CO2-Neutralität lässt sich so nicht erreichen und ein echter „Ausstieg“ aus der Atomkraft ist das auch nicht.

Während der Aufbau von Windrädern umfangreich gefördert und öffentlich sehr breit diskutiert wird nimmt die Diskussion um einen Reservekraftwerkspark zwecks Redundanzaufbau überraschend wenig Raum ein. Die Frage, ob der Strom- bzw. Energiebedarf in Deutschland aus erneuerbaren Kapazitäten gedeckt werden kann wird irritierenderweise häufig auf die Frage verkürzt, ob genügend Menge erzeugt werden kann. In einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung e.V. (DIW Berlin) mit dem Titel „100 Prozent erneuerbare Energien für Deutschland: Koordinierte Ausbauplanung notwendig“ wird jedoch davon ausgegangen, dass Reserve-Erzeugungsleistungen von ca. 25.000 MW aus Batteriespeichern (74 Kohlekraftwerke), ca. 75.000 MW aus Elektrolyseuren (221 Kohlekraftwerke) sowie ca. 80.000 MW aus Wasserstoffturbinen (236 Kohlekraftwerke) benötigt werden würden, um zu 100% auf erneuerbare Energien umzusteigen. Diese Reserve-Erzeuger müssten eigentlich parallel zur Windkraft aufgebaut werden, um den fossilen und nuklearen Reservekraftwerkspark endgültig obsolet werden zu lassen.

Denn um ein Kernkraftwerk wirklich durch Windräder zu „ersetzen“ müssen die Reservekraftwerke auch (indirekt) durch Windkraft angetrieben werden, es muss also Windstrom gespeichert werden. Die Speicher müssen drei Voraussetzungen erfüllen: sie müssen nach Bedarf skalierbar sein, sie müssen in der Lage sein, Energie auch langfristig zu speichern, um einen Saisonausgleich sicherzustellen, und sie müssen wirtschaftlich sein. Bisher genutzte Möglichkeiten der Stromspeicherung erfüllen in der Regel nicht alle drei Zielvorgaben: Pumpspeicherkraftwerke sind nicht beliebig skalierbar, denn die notwendigen geologischen Voraussetzungen lassen sich nicht künstlich schaffen. Batterien sind für eine langfristige Speicherung von Strom nur bedingt geeignet und für große Mengen in der Regel nicht wirtschaftlich. Die häufig diskutierte Möglichkeit, die Akkus von Elektroautos als Netzreserve zu verwenden („bidirektionales Laden“), taugt daher nur als kurzfristiger Puffer, nicht aber für einen Saisonausgleich. Die derzeit einzige Möglichkeit, erneuerbar erzeugten Strom langfristig skalierbar zu speichern ist die Herstellung von Wasserstoff, der bei Bedarf rückverstromt werden kann. Neben dem Aufbau von Windrädern muss also dringend ein Reservekraftwerkspark geschaffen werden, der mit Wasserstoff betrieben werden kann. Nur auf diese Weise lassen sich Kernkraftwerke und fossile Kraftwerke tatsächlich ersetzen und dauerhaft abschaffen.

Zu beachten ist, dass die Reserve-Erzeugungskapazitäten nur auf eine geringe Benutzungsstundenzahl pro Jahr kommen würden, da sie „nur“ für Reserve- und Ausgleichsleistung benötigt werden. Das wirkt sich stark auf die Wirtschaftlichkeit dieser Anlagen aus, da die Vorhaltung von Erzeugungskapazität im europäischen Energiemarktdesign nicht vergütet wird: es erfolgt eine Vergütung „energy only“, also nur tatsächlich erzeugte Strommengen lassen sich verkaufen. Bisherige Diskussionen um die Einführung eines sogenannten „Kapazitätsmarkts“ führten zu keiner einheitlichen Bewertung – von der Politik wurde ein solcher Marktmechanismus bisher abgelehnt. Möglicherweise muss das vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, klimafreundliche Reservekraftwerksparks aufbauen zu müssen, noch einmal diskutiert werden, denn der Aufbau von Elektrolyseuren und Wasserstoffturbinen wird nur erfolgen, wenn die Investitionen wirtschaftlich sind. Wenn eine Rentabilität durch den Strom- und Wärmeabsatz der Kraftwerke allein nicht hergestellt werden kann müssen andere Anreize geschaffen werden. Das können Förderinstrumente und Subventionen sein, das kann aber auch durch die Bepreisung der Erzeugungskapazität geschehen. Ein richtig ausgestalteter Kapazitätsmarkt hätte zumindest den Vorteil, über den Preismechanismus ökonomische Effizienz zu erzwingen, was bei Förderprogrammen und Subventionen erfahrungsgemäß nicht immer sichergestellt ist. Es ist außerdem ein merkwürdiges „Marktdesign“, wenn Reservekraftwerke von der Bundesnetzagentur geplant, gebucht und vergütet werden: eine behördenseitige Planung von Angebot, Produktion und Nachfrage ist eigentlich eine Form von Planwirtschaft, die sich aus gutem Grund bisher nirgends behaupten konnte.

Und kommt es jetzt zum Blackout, wenn die Kernkraftwerke abgeschaltet werden? Die Übertragungsnetzbetreiber kamen in einem Stresstest zu folgendem Ergebnis: „Eine stundenweise krisenhafte Situation im Stromsystem im Winter 22/23 ist zwar sehr unwahrscheinlich, kann aktuell aber nicht vollständig ausgeschlossen werden.“ Ob es dazu kommt oder nicht hängt von vielen Faktoren, unter anderem vom Wetter ab. Oder wie Bob Dylan bereits 1963 sang: „The answer, my friend, is blowin‘ in the wind“…

Kommentar verfassen