Die Debatte um Deutschlands Industriesektor: Wohlstand jenseits der Fabriken

Ist Deindustrialisierung ein großes Risiko für Deutschland? Oder ist das eigentlich gar kein Problem, weil die Wertschöpfung dann eben in anderen Sektoren stattfindet? „Wir können doch nicht dauerhaft davon leben, dass wir uns gegenseitig die Haare schneiden“, warnte der damalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel schon 1995. Der Satz wurde später von Bundeskanzler Gerhard Schröder wiederholt und scheint auch heute noch in den Köpfen vieler Bundespolitiker herumzuspuken, anders lässt sich die Diskussion um den Industriestrompreis nicht verstehen.

Aber stimmt das? Kann eine große Volkswirtschaft wie Deutschland ohne einen großen Industriesektor nicht dauerhaft Wohlstand erwirtschaften?

Die Grafik zeigt den Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt in wichtigen G20-Ländern. Man sieht, dass der Industriesektor in Deutschland mit 27% einen deutlich höheren Anteil an der Wirtschaftsleistung hat als in anderen “Industrienationen” wie Frankreich (17%), Großbritannien (18%) oder den USA (18%). Auch in Schwellenländern wie Brasilien (19%) oder Indien (26%) spielt die Industrie keine so große Rolle wie in Deutschland. Lediglich China übertrifft uns mit 40% deutlich.

Gleichzeitig muss man feststellen, dass das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (in US-Dollar) praktisch überhaupt nicht mit dem Anteil des Industriesektors am BIP korreliert ist. Deutschland liegt mit 49.000 Dollar nur etwas über Großbritannien (45.000 Dollar) und Frankreich (42.000 Dollar). Die USA überragen alle Nationen mit 76.000 Dollar, während die Schwellenländer zwischen 2.000 Dollar (Indien) und 13.000 Dollar (China) erreichen.

Die Wertschöpfung einer Volkswirtschaft hat also mit der Größe des Industriesektors nichts zu tun, auch im Dienstleistungssektor oder im Falle von Schwellenländern im landwirtschaftlichen Bereich wird Wohlstand erwirtschaftet.

Letztlich bildet die Gesamtheit aller Waren und Dienstleistungen das Bruttoinlandsprodukt als zentrale Messgröße des Wohlstands. Das wird bisweilen kritisiert, weil beispielsweise auch Wiederaufbauarbeiten nach Umweltkatastrophen, Autoreparaturen nach Unfällen oder Krankenhausbehandlungen von Zivilisationskrankheiten wie Rückenschmerzen aus Sicht des BIP “Wohlstandsmehrungen“ sind. Aber das ist ein anderes Thema.

Ob Deutschland durch eine Schrumpfung des Industriesektors ein Wohlstandsverlust droht, hängt im Wesentlichen davon ab, ob der Dienstleistungssektor im Gegenzug wächst oder nicht. Anders gesagt: wenn es uns gelingt, neue, kompensierende Geschäftsmodelle zu entwickeln, können wir einer Deindustrialisierung mit einer gewissen Gelassenheit entgegensehen. Das kann bedeuten, Industrien mit geringem Energiebedarf zu stärken, aber auch, digitale Produkte zu entwickeln.

Denn eines ist klar: die wertvollsten Konzerne der Welt verarbeiten nicht Stahl oder Chemieprodukte – sondern Daten.

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