Kernkraft: Renaissance oder Auslaufmodell?

1. Einleitung: Energie im Umbruch – Atomkraft zurück auf der politischen Bühne
Lange schien es, als habe die Kernkraft in Europa ihre Rolle ausgespielt. Rückbaupläne, Volksentscheide und jahrzehntelange gesellschaftliche Debatten hatten der Technologie in vielen Ländern ein Ablaufdatum verpasst. Die Energiewende sollte – so das weit verbreitete Narrativ – ohne sie gelingen: Wind, Sonne, Wasser, ergänzt durch Speicher, Netzausbau und Effizienz. Die Atomkraft galt als teuer, gefährlich, unflexibel – ein Relikt aus dem industriepolitischen Denken des 20. Jahrhunderts.

Doch die Welt hat sich verändert. Die Klimakrise ist nicht länger ein Szenario in der Zukunft, sondern Gegenwart – mit immer häufigeren Extremwetterereignissen und einem steigenden Druck, die Emissionen schneller zu senken als es bisher der Fall ist. Gleichzeitig hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine eine zweite, alte Wahrheit zurück auf die politische Tagesordnung gebracht: Energie ist nicht nur eine Frage des Preises, sondern auch der Geopolitik und Versorgungssicherheit. Wer abhängig ist, zahlt – finanziell, strategisch, manchmal beides. Die Folgen sind bekannt: explodierende Gaspreise, Unsicherheit bei der Stromversorgung, hektische Notmaßnahmen von Regierungen in ganz Europa.

In dieser Gemengelage erleben einige Technologien, die eben noch als auslaufend galten, eine Renaissance in der öffentlichen und politischen Debatte. Dazu gehört auch die Kernenergie. Sie ist CO₂-arm, grundlastfähig und – bei ausreichender Inlandsproduktion oder vielfältigen Importquellen von Uran – vergleichsweise unabhängig von geopolitischen Erpressungsversuchen. Es überrascht daher wenig, dass sie plötzlich wieder ernsthaft ins Spiel gebracht wird – selbst in Ländern, die sich jahrelang demonstrativ von ihr distanziert hatten. Die EU diskutiert ihre Rolle in der Taxonomie für nachhaltige Investitionen, Staaten wie die Niederlande, Polen oder Schweden planen Neubauten, andere wie Frankreich oder Tschechien wollen bestehende Reaktoren modernisieren oder ihre Lebensdauer verlängern.

Gleichzeitig bleibt der Gegensatz bestehen – insbesondere in Westeuropa. Deutschland hat 2023 den Atomausstieg final vollzogen, trotz Energiekrise und zahlreicher Warnungen. Österreich, Dänemark und Luxemburg verweigern sich der Kernkraft ohnehin aus Prinzip, oft mit Verweis auf ungelöste Sicherheits- und Entsorgungsfragen. Was für die einen ein Beitrag zur Klimaneutralität ist, gilt den anderen als politischer Irrweg mit hohem Risiko und geringem Nutzen.

So entsteht eine paradoxe Situation: Während auf internationalen Konferenzen die Rolle der Kernenergie zur Erreichung der Klimaziele zunehmend betont wird – ob von der Internationalen Energieagentur, der IAEA oder sogar in IPCC-Berichten –, bleibt sie in Teilen Europas hochumstritten. Befürworter sehen in ihr einen unverzichtbaren Bestandteil eines stabilen, emissionsarmen Energiesystems der Zukunft. Kritiker warnen vor einem Rückfall in die technologische Steinzeit – oder zumindest in eine Ära, in der Subventionen und politische Symbolik teure Großprojekte rechtfertigen sollen.

Vor diesem Hintergrund lohnt sich ein nüchterner Blick auf die Fakten: Welche Länder setzen auf Atomkraft, welche kehren ihr den Rücken? Was sagen unabhängige Analysen über ihre Wirksamkeit im Klimaschutz? Und welche neuen Technologien – von Small Modular Reactors bis hin zur gekoppelten Wärmeversorgung – könnten die Rolle der Kernkraft in Zukunft neu definieren?

Fragen, die sich nicht mit ideologischen Reflexen beantworten lassen, sondern mit einem Blick auf Daten, Entwicklungen und politische Entscheidungen. Die folgenden Abschnitte sollen dabei helfen.

2. Europa im Kernkraft-Dilemma: Zwischen Atomausstieg und Ausbauoffensive
Selten war das energiepolitische Gefüge Europas so fragmentiert wie heute. Während man sich bei Zielen wie Klimaneutralität oder Ausbau der Erneuerbaren weitgehend einig ist, scheiden sich an einem Punkt weiterhin die Geister: der Rolle der Kernenergie. Die Spannweite reicht von konsequentem Ausstieg bis hin zur Renaissance mit neuen Reaktoren und Milliardeninvestitionen. Und nicht selten revidieren Länder ihre Haltung – je nach politischem Wind, geopolitischer Großwetterlage oder schlicht aus Gründen der Versorgungssicherheit.

Deutschland nimmt in diesem Tableau eine besondere Rolle ein. Mit dem endgültigen Abschalten der letzten drei Reaktoren im April 2023 hat das Land sein lang geplantes Kapitel „Atomausstieg“ geschlossen. Ungeachtet gestiegener Strompreise, importierter Atomstrommengen aus Nachbarländern und zunehmender Kritik aus Teilen der Industrie wurde das politische Vorhaben durchgezogen – als Ausdruck energiepolitischer Konsequenz, sagen die einen. Als Symbolpolitik mit hohem Preis, sagen die anderen. Unbestritten ist: Deutschland steht mit diesem Weg in Europa zunehmend alleine da.

Frankreich hingegen bleibt das Paradebeispiel für eine pronukleare Energiepolitik. Rund zwei Drittel des französischen Stroms stammen aus Atomkraftwerken, und daran soll sich auch künftig wenig ändern – im Gegenteil. Präsident Macron kündigte 2022 eine Neubauoffensive an: Sechs neue EPR2-Reaktoren sollen gebaut, bestehende Anlagen länger betrieben und erste modulare Reaktoren entwickelt werden. Der Anspruch: Atomstrom als Rückgrat eines klimaneutralen, souveränen Europas. Ob der Zeitplan hält und die Finanzierung aufgeht, steht auf einem anderen Blatt – Erfahrungen mit Projekten wie Flamanville lassen gewisse Zweifel zu.

Belgien hat seinen 2003 beschlossenen Atomausstieg endgültig revidiert. Im Mai 2025 stimmte das Parlament mit großer Mehrheit für die Aufhebung des Ausstiegsplans. Neben der Verlängerung der Laufzeiten bestehender Reaktoren plant die Regierung unter Premierminister Bart De Wever den Bau neuer Kernkraftwerke. Diese Entscheidung erfolgt vor dem Hintergrund wachsender Energiebedarfe, geopolitischer Unsicherheiten und des Ziels, CO₂-Emissionen zu reduzieren. Die Kernenergie wird nun als zentraler Bestandteil einer klimaneutralen Stromversorgung betrachtet.

In der Schweiz ist die Lage ambivalent. Nach der Katastrophe von Fukushima 2011 votierte das Land für einen schrittweisen Atomausstieg. Neubauten sind seit 2017 gesetzlich ausgeschlossen – doch ein konkretes Enddatum für den Betrieb bestehender Anlagen gibt es nicht. Die vier Reaktoren in Beznau, Gösgen und Leibstadt produzieren weiterhin rund ein Drittel des Schweizer Stroms – und das vermutlich noch lange. Der Begriff „Ausstieg“ hat hier eine sehr schweizerische Auslegung: verbindlich in der Theorie, pragmatisch in der Praxis.

Auch die Niederlande zeigen, dass Meinungswandel möglich ist. Jahrzehntelang war das Land eher kernkraftskeptisch, betrieb mit Borssele nur ein einziges kleines AKW – und das unter ständiger Infragestellung. Nun aber kündigt die Regierung nicht nur eine Laufzeitverlängerung an, sondern auch den Bau von zwei neuen großen Reaktoren. 5 Milliarden Euro wurden für das Projekt bereits reserviert. Ein Sinneswandel, der ohne die Energiepreisschocks der letzten Jahre kaum denkbar gewesen wäre.

Noch klarer ist der Richtungswechsel in Schweden. Einst auf Atomausstiegskurs, hat sich das Land inzwischen für eine neue Pro-Kernkraft-Strategie entschieden. Bis 2033 sollen zwei neue Reaktoren gebaut werden, langfristig sogar bis zu zehn – auch in Form von SMRs. Die politische Begründung: mehr Versorgungssicherheit, weniger Emissionen, bessere Planbarkeit. Ein Argumentationsmuster, das inzwischen in vielen Hauptstädten Anklang findet.

Polen wiederum geht noch weiter: Das Land baut erstmals überhaupt Kernkraftwerke. Bis 2043 sollen sechs große Reaktoren ans Netz gehen, der erste bereits 2033. Zusätzlich verfolgt Polen ehrgeizige Pläne für den Einsatz kleiner modularer Reaktoren, insbesondere für die Wärmeversorgung großer Städte. Aus einem energiepolitischen Spätstarter wird so ein künftiger Pfeiler europäischer Atompolitik – jedenfalls auf dem Papier.

Und dann gibt es noch die Dauerverweigerer: Österreich hat nie ein AKW ans Netz genommen, Dänemark gesetzlich verboten, Luxemburg verzichtet ohnehin mangels Größe. Sie alle sehen in der Kernenergie keinen Beitrag zur Energiewende, sondern ein Sicherheitsrisiko und eine teure Technologie mit langem Rattenschwanz. Diese Haltung ist über Jahre konsistent geblieben – was in Zeiten energiepolitischer Volatilität fast schon eine Nachricht für sich ist.

Tschechien, Finnland, die Slowakei, Ungarn, Rumänien – viele mittel- und osteuropäische Länder verfolgen eine eindeutig ausbaubasierte Linie. Neue Reaktoren sind in Planung oder bereits im Bau, bestehende werden modernisiert oder ihre Lebensdauer verlängert. Man sieht sich als nüchtern kalkulierender Pragmatiker: Klimaziele ja, Versorgungssicherheit sowieso – aber eben nicht allein durch Wind und Sonne.

In Summe zeigt sich: Europa ist in Sachen Kernenergie eine energetische Flickenteppichlandschaft. Während der europäische Strommarkt immer stärker zusammenwächst, gehen die nationalen Strategien in diametral entgegengesetzte Richtungen. Einige Länder steigen aus, andere ein. Manche bauen aus, andere vertrauen auf Verlängerung. Und so stellt sich eine paradoxe Frage: Kann ein Kontinent, der sich bei der Energie immer enger verzahnt, langfristig so unterschiedliche Vorstellungen von einer zentralen Technologie wie der Kernkraft nebeneinander bestehen lassen?

Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

3. Globale Trends: Renaissance der Atomkraft oder technologische Sackgasse?
Während Europa über den Sinn oder Unsinn der Kernenergie debattiert, lohnt der Blick über den Kontinent hinaus. Denn global betrachtet steht die Atomkraft derzeit an einem energetischen Scheideweg – irgendwo zwischen Rückzug, Stillstand und ambitionierter Wiederbelebung. Die entscheidende Frage lautet: Kommt die viel zitierte „Renaissance der Kernkraft“ tatsächlich – oder bleibt sie eine rhetorische Fata Morgana, hinter der sich ein Rückzug aus der Realität versteckt?

Zunächst zu den Zahlen: Weltweit sind derzeit rund 410 Kernreaktoren in Betrieb, die etwa 10 % des globalen Strombedarfs decken. In den 1990er Jahren lag dieser Anteil noch bei über 17 %. Seither ist er kontinuierlich gefallen – nicht, weil die Atomkraft massiv eingebrochen wäre, sondern weil andere Technologien schneller gewachsen sind. Wind und Solar haben den Reaktoren in puncto Zubau längst den Rang abgelaufen. Die nukleare Stromproduktion stagniert in absoluten Zahlen, ihr relativer Beitrag schrumpft.

Gleichzeitig entsteht in Asien ein anderer Eindruck. China baut wie kein zweites Land weltweit neue Kernkraftwerke. Über 20 Reaktoren sind dort derzeit in Bau, weitere Dutzende in Planung. Indien, Pakistan, Bangladesch und auch Russland erweitern ihre Reaktorkapazitäten, teilweise mit beachtlichem Tempo. In den Vereinigten Arabischen Emiraten sind seit 2020 vier südkoreanische Reaktoren ans Netz gegangen, auch Ägypten, die Türkei und Saudi-Arabien wollen einsteigen – mit internationaler Hilfe. In Belarus wurde 2021 das erste Kernkraftwerk des Landes in Betrieb genommen, ein zweiter Reaktor folgte 2023. Selbst in afrikanischen Staaten wie Ghana oder Kenia gibt es konkrete Vorbereitungen auf einen Einstieg in die Atomenergie – meist mit technischem Support aus China oder Russland.

Der technologische Export ist dabei ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor. Russland bietet schlüsselfertige AKW-Lösungen inklusive Finanzierung und Brennstoffkreislauf an – und verschafft sich damit geopolitischen Einfluss, ganz ohne militärisches Säbelrasseln. China wiederum nutzt den Reaktorbau als Teil seiner Belt-and-Road-Strategie. Die westliche Welt hingegen ist – trotz jahrzehntelanger Technologieführerschaft – in vielen Regionen längst nur noch Zuschauer.

In Nordamerika zeigt sich ein gemischtes Bild. In den USA sind zwar neue Reaktoren zuletzt eher Ausnahme denn Regel – mit dem Vogtle-3-Projekt ging 2023 erstmals seit Jahrzehnten wieder ein neuer Block ans Netz, nach langen Verzögerungen und gewaltigen Kostenüberschreitungen. Die Baukosten lagen am Ende bei über 30 Milliarden US-Dollar – ein Lehrstück dafür, wie man die öffentliche Meinung nachhaltig gegen sich aufbringt. Dennoch gibt es neue Bewegung: Zahlreiche Bundesstaaten prüfen den Einsatz kleiner modularer Reaktoren (SMR), insbesondere zur Versorgung entlegener Regionen oder zur Dekarbonisierung industrieller Prozesse. Kanada verfolgt ähnliche Pläne – mit vergleichsweise großem politischen Rückhalt.

Auch in Japan regt sich nach dem Schock von Fukushima wieder etwas. Der politische Kurs hat sich vorsichtig geändert: Inzwischen ist der Weiterbetrieb genehmigter Reaktoren wieder möglich, und neue Bauprojekte sind zumindest nicht mehr völlig tabu. Der Umbau geht jedoch langsam voran – auch, weil der gesellschaftliche Vertrauensverlust tief sitzt.

Brasilien und Argentinien verfügen über kleine, etablierte Atomprogramme und planen ebenfalls Erweiterungen – wenn auch in bescheidenerem Umfang. Südkorea, lange Exportnation für Reaktortechnologie, musste unter Präsident Moon kurzzeitig einen Rückzug vom Neubau akzeptieren. Inzwischen wurde dieser Kurs jedoch wieder revidiert. Das Land will nun sogar wieder zum Anbieter am Weltmarkt werden – mit Blick auf Märkte im Nahen Osten, Afrika und Südostasien.

In der Gesamtschau ergibt sich ein Bild mit zwei unterschiedlichen Dynamiken: In vielen westlichen Demokratien altert der Reaktorpark, neue Projekte scheitern an politischen Widerständen, Kostenrisiken oder schlicht an Bürgerprotesten. Der Rückbau übersteigt mitunter den Neubau. Gleichzeitig entstehen vor allem in Asien und ausgewählten Schwellenländern neue Kapazitäten, oft gestützt durch staatliche Großprojekte und langfristige Energieplanungen. Ob das am Ende reicht, um die „Renaissance“ der Kernkraft zur globalen Realität werden zu lassen, bleibt offen.

Was sich jedoch sagen lässt: Die Rhetorik hat sich geändert. Die Internationale Energieagentur (IEA), die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) und selbst der Weltklimarat IPCC sprechen inzwischen deutlich über die Rolle der Kernkraft in einer dekarbonisierten Welt. In vielen Klimaschutzszenarien – insbesondere bei denen, die mit Netto-Null bis 2050 operieren – ist ein stabiler oder wachsender Anteil der Atomkraft vorgesehen. Die IAEA hat 2023 ihr „High Scenario“ überarbeitet: Demnach könnte sich die globale Kernkraftkapazität bis 2050 mehr als verdoppeln. Voraussetzung dafür: entschlossene politische Unterstützung, Investitionen in neue Technologien und eine größere gesellschaftliche Akzeptanz.

Die andere Perspektive lautet: Selbst wenn sich diese optimistischen Szenarien bewahrheiten – wird Atomkraft je wieder eine dominierende Rolle spielen? Oder bleibt sie eine Ergänzung, ein Spezialinstrument für bestimmte Märkte und Regionen? Mit einem Anteil von derzeit 10 % ist sie global betrachtet längst nicht mehr das Rückgrat, sondern eher ein Stützpfeiler. Einer, der zwar tragfähig sein kann – aber eben nicht allein.

Ob Renaissance oder Sackgasse – das bleibt also nicht nur eine Frage der Technologie, sondern auch des politischen Willens. Und des Geldes. Und vielleicht, ganz banal, auch der Geduld.

4. Zwischen Klimaschutz und Kosten: Was sagen wissenschaftliche Studien zur Rolle der Kernkraft?
Wer über die Zukunft der Kernenergie spricht, sollte sich nicht allein auf politische Debatten oder mediale Schlagzeilen verlassen. Denn oft liegt zwischen Schlagwort und Sachlage ein tiefer Graben. Einen objektiveren Blick erlauben wissenschaftliche Studien und Szenarienanalysen – etwa von der Internationalen Energieagentur (IEA), der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEA), dem Weltklimarat IPCC oder der Gemeinsamen Forschungsstelle der EU (JRC). Sie alle haben sich in den letzten Jahren intensiv mit der Rolle der Kernkraft in einem klimaneutralen Energiesystem befasst. Das Ergebnis: kein Konsens, aber eine zunehmende Differenzierung.

Beginnen wir mit den Basics: Kernenergie verursacht über ihren Lebenszyklus hinweg sehr geringe Treibhausgasemissionen. Laut IPCC liegt sie auf Augenhöhe mit Windkraft, deutlich unterhalb von Solarenergie und natürlich weit entfernt von fossilen Energieträgern. Wer also Emissionen vermeiden will, macht mit Atomstrom prinzipiell keinen Fehler – vorausgesetzt, die Anlage steht schon oder wird rechtzeitig fertig. Denn zwischen „klimaneutral“ auf dem Papier und einem tatsächlichen Beitrag zum CO₂-Sparen in der Realität liegen oft Jahre, wenn nicht Jahrzehnte.

Das ist auch der Grund, warum der Weltklimarat in seinen Klimaszenarien eine ambivalente Haltung einnimmt. Im sechsten Sachstandsbericht (AR6, 2022) finden sich zahlreiche Modellierungen, in denen die Kernenergie ihren Anteil ausbaut – teils deutlich. Besonders in Szenarien mit 1,5 °C-Ziel spielt sie eine wichtige Rolle, häufig als Ergänzung zu einem massiven Ausbau erneuerbarer Energien. Gleichzeitig betont der IPCC, dass der Beitrag der Kernkraft stark vom jeweiligen Kontext abhängt: Infrastruktur, gesellschaftliche Akzeptanz, regulatorische Rahmenbedingungen und technologische Entwicklung. Mit anderen Worten: Ohne politisches Rückgrat und langfristige Planung bleibt das theoretische Potenzial eben auch nur das – Theorie.

Die Internationale Energieagentur (IEA) geht einen ähnlichen Weg. In ihrem Netto-Null-Szenario bis 2050 („Net Zero by 2050“) wird die weltweite Kapazität der Kernkraftwerke fast verdoppelt. Die IEA argumentiert, dass Atomkraft nicht nur ein Beitrag zum Klimaschutz sei, sondern auch zur Versorgungssicherheit – insbesondere in Ländern mit begrenzten erneuerbaren Ressourcen oder volatiler Netzstruktur. In ihrem Bericht von 2022 betont die Agentur allerdings auch, dass ohne politische Maßnahmen viele bestehende Reaktoren vorzeitig vom Netz gehen könnten – was das Erreichen der Klimaziele erheblich erschwert. Die Verlängerung sicherer Bestandsanlagen gilt daher als eine der wirtschaftlich effizientesten Maßnahmen für eine CO₂-arme Stromversorgung.

Ähnlich äußert sich die IAEA, die die Rolle der Kernkraft naturgemäß etwas wohlwollender bewertet. In ihrer Projektion für das Jahr 2050 geht sie in ihrem „High Scenario“ von einer Steigerung der weltweiten Nuklearkapazität auf über 900 Gigawatt aus – das wäre mehr als das Doppelte des heutigen Standes. Die IAEA betont, dass Kernenergie nicht nur zur Stromversorgung beiträgt, sondern auch zur Dekarbonisierung anderer Sektoren – etwa durch Prozesswärme oder Wasserstofferzeugung. Gleichwohl nennt auch sie die bekannten Hürden: hohe Anfangsinvestitionen, lange Genehmigungsprozesse, fehlende Akzeptanz.

Ein besonders interessanter Beitrag kam in dieser Debatte aus Brüssel. Die Gemeinsame Forschungsstelle der EU (JRC) hat 2021 in einem viel beachteten Gutachten untersucht, ob Kernkraft im Sinne der EU-Taxonomie als „nachhaltige“ Investition gelten kann. Die Antwort war bemerkenswert deutlich: Ja – unter der Bedingung, dass Sicherheitsstandards eingehalten und Lösungen für die Entsorgung gefunden werden. Die JRC kam zu dem Schluss, dass Kernenergie keine größeren Schäden für Umwelt oder Gesundheit verursacht als andere emissionsarme Technologien. Damit war der wissenschaftliche Weg frei für die spätere politische Entscheidung, Atomkraft unter Auflagen als „grün“ einzuordnen. Eine Entscheidung, die – wenig überraschend – für diplomatisches Dauergrummeln zwischen Paris und Berlin gesorgt hat.

Was all diese Studien gemeinsam haben: Sie sehen in der Kernkraft ein mögliches Werkzeug im Kampf gegen den Klimawandel – aber eben nur eines von vielen. Keineswegs wird Atomenergie als alternativlos oder Allheilmittel dargestellt. Vielmehr hängt ihr Nutzen maßgeblich von Geschwindigkeit, Effizienz und Kosten ab. Und genau hier liegt der Knackpunkt.

Denn wirtschaftlich ist die Kernkraft nach wie vor ein Wackelkandidat. Neubauten wie Hinkley Point C in Großbritannien oder Flamanville in Frankreich haben gezeigt, wie schwierig es ist, Zeit- und Kostenpläne einzuhalten. Milliardenbudgets werden überschritten, Baustellen ziehen sich über Jahrzehnte, die öffentliche Geduld trägt eher Langlauf- als Sprintqualitäten. Während Photovoltaik und Windkraft in den letzten Jahren massiv an Kosten verloren haben, bleibt die Kernkraft teuer – jedenfalls im konventionellen Maßstab.

Hinzu kommt: Die Kapitalbindung ist enorm. Wer heute ein Atomkraftwerk plant, investiert über Jahrzehnte hinweg – mit allen politischen und wirtschaftlichen Risiken. Private Investoren schrecken davor zurück, was zur Folge hat, dass der Staat in vielen Fällen einspringen muss. Das ist legitim, wenn man von strategischer Infrastruktur spricht – aber es widerspricht der oft kolportierten Erzählung von der „Marktfähigkeit“ der Kernenergie.

Am Ende bleibt also ein differenziertes Bild: Wer Klimaschutz ernst meint, kann die Kernkraft nicht pauschal ausschließen. Aber wer glaubt, mit ihr allein das Energiesystem der Zukunft bauen zu können, verkennt die Realität. Sie ist ein möglicher Baustein – nicht mehr, nicht weniger. Entscheidend wird sein, wie schnell, sicher und kosteneffizient neue Reaktorkonzepte in die Praxis überführt werden können. Und ob die Gesellschaft bereit ist, die politische Verantwortung für eine Technologie zu tragen, die mit langem Atem, hoher Komplexität und – ja – einer gewissen Portion Risiko verbunden ist.

5. Zukunftstechnologien: Können SMRs und Wärme-Kopplung die Kernkraft revolutionieren?
Wenn über die Zukunft der Kernenergie gesprochen wird, dann fällt früher oder später ein Begriff, der in energiepolitischen Fachkreisen mittlerweile fast schon inflationär verwendet wird: SMR – Small Modular Reactor. Die Hoffnung dahinter ist ebenso simpel wie ambitioniert: kleiner, billiger, schneller, sicherer. Eine Art „Atomkraftwerk to go“, skalierbar, industriell vorgefertigt, mit kürzeren Bauzeiten und weniger Kapitalrisiko. Der SMR ist die Projektionsfläche einer Branche, die weiß, dass Großprojekte mit 10-Milliarden-Euro-Preisschild und 20 Jahren Bauzeit politisch kaum noch vermittelbar sind.

Tatsächlich werden weltweit über 80 verschiedene SMR-Designs entwickelt, von Start-ups bis zu staatlichen Nuklearkonzernen. In Russland sind zwei schwimmende SMRs bereits in Betrieb, China hat einen Hochtemperaturreaktor mit modularer Bauweise in Betrieb genommen, die USA haben erste Genehmigungen für Demonstrationsanlagen vergeben. Auch in Europa tut sich etwas: Frankreich will mit dem NUWARD-Projekt bis 2030 einen eigenen SMR-Prototyp bauen, Polen und Rumänien planen erste Anlagen mit US-Technologie, in Schweden und den Niederlanden laufen Studien und Standortprüfungen. Die EU hat 2024 sogar eine eigene SMR-Allianz gegründet, um Forschung, Genehmigungspraxis und industrielle Umsetzung besser zu koordinieren.

Der technische Charme der SMRs liegt in ihrer Flexibilität. Ein einzelner Reaktor soll etwa 50 bis 300 Megawatt elektrische Leistung erzeugen – deutlich weniger als klassische Großkraftwerke, aber ausreichend für kleinere Stromnetze, Industrieparks oder entlegene Regionen. Mehrere Module lassen sich kombinieren, bei steigendem Bedarf kann modular nachgerüstet werden. Die Sicherheitskonzepte setzen stark auf passive Mechanismen: Reaktoren sollen sich bei Störungen automatisch abschalten, Nachkühlung ohne externe Energiezufuhr ermöglichen. Die Theorie klingt gut. Die Praxis muss sich erst noch beweisen.

Denn trotz aller Euphorie sind SMRs bislang eher ein Versprechen als eine Realität. Noch ist kein kommerzieller SMR im Westen in Betrieb. Die meisten Projekte stecken im Planungs- oder Genehmigungsstadium. Auch die Kostenfrage ist nicht abschließend geklärt: Zwar versprechen die Hersteller niedrigere spezifische Investitionen durch Serienfertigung, doch ob diese Skaleneffekte im Markt wirklich eintreten, ist ungewiss. Ein kleines Kraftwerk ist eben nicht automatisch ein günstiges – vor allem dann nicht, wenn Sicherheitsanforderungen ähnlich hoch sind wie bei Großanlagen.

Interessant ist, dass SMRs oft nicht nur als Stromlieferanten gedacht sind, sondern als multifunktionale Energiesysteme. Ein besonderes Potenzial liegt in der Nutzung der entstehenden Wärme – etwa zur Einspeisung in Fernwärmenetze oder zur Bereitstellung industrieller Prozesswärme. Gerade in Ländern mit kaltem Klima und hohem Wärmebedarf – wie Polen, Finnland oder Kanada – könnte das ein echter Hebel zur Dekarbonisierung sein. In Warschau etwa wird derzeit geprüft, ob drei SMR-Einheiten den Großteil des städtischen Fernwärmebedarfs decken könnten – aktuell stammen über 90 % dieser Wärme aus Kohlekesseln. Ähnliche Überlegungen gibt es für Helsinki, das seine Wärmeversorgung bis 2035 klimaneutral umstellen will.

Die Kopplung von Strom- und Wärmeerzeugung ist dabei keineswegs neu – in der fossilen Welt nennt man das Kraft-Wärme-Kopplung und feiert sie als Effizienzwunder. In der Kernenergiewelt war dieses Konzept bislang unterentwickelt. Der Reaktor erzeugt Dampf, der treibt eine Turbine an, der Rest ist Abwärme – meist ungenutzt. Mit SMRs und gezielter Wärmeauskopplung könnte sich das ändern. Je höher die Nutzungsrate der Abwärme, desto effizienter wird das Gesamtsystem. Und desto eher lässt sich ein wirtschaftlicher Betrieb rechtfertigen, auch jenseits des Strommarkts.

Die technische Umsetzbarkeit ist dabei nicht die größte Hürde – vielmehr sind es regulatorische und gesellschaftliche Fragen. Wie nah darf ein Reaktor an einer Stadt stehen, wenn er das Fernwärmenetz speisen soll? Wer betreibt ihn? Wer haftet? Und wie lässt sich die Technologie in Regionen mit ausgeprägter Atomskepsis überhaupt politisch vermitteln? Auch hier gilt: Was in Finnland denkbar ist, dürfte in Deutschland – Stand heute – nicht einmal genehmigungsfähig sein.

Nicht zuletzt steht die SMR-Idee auch für einen Paradigmenwechsel in der Reaktortechnologie. Weg vom zentralistischen Großkraftwerk, hin zu dezentraleren, skalierbaren Modellen. Ob das gelingt, wird maßgeblich darüber entscheiden, ob die Kernkraft in einem zunehmend erneuerbaren Energiesystem überhaupt noch einen Platz findet. Denn während Photovoltaik und Wind längst modular, lokal und skalierbar sind, blieb die Kernenergie bisher ein statischer Gigant. Die SMR ist der Versuch, das zu ändern.

Ob sie damit die versprochene Revolution bringt – oder nur ein weiteres Kapitel in der langen Geschichte ambitionierter, aber letztlich nicht tragfähiger Reaktorkonzepte wird –, wird sich in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren zeigen. Vieles hängt von ersten Pilotprojekten ab, von Genehmigungsprozessen, von Marktakzeptanz. Sicher ist nur: Ohne Innovation bleibt die Kernenergie ein Auslaufmodell. Mit ihr hat sie zumindest die Chance auf eine neue Rolle – vielleicht nicht als Star, aber als verlässlicher Nebendarsteller im Ensemble der Energiewende.

6. Fazit: Die Atomkraft bleibt eine Streitfrage – aber sie ist zurück in der Debatte
Die Kernenergie ist zurück. Nicht unbedingt in den Bilanzen – aber in den Köpfen. Nach Jahren der politischen Verdrängung wird wieder offen darüber diskutiert, welche Rolle sie im Energiesystem der Zukunft spielen kann oder soll. Die Motive sind nachvollziehbar: Klimaziele, Versorgungssicherheit, geopolitische Resilienz. Und doch bleibt die Frage unbeantwortet, ob wir es hier mit einer echten Renaissance zu tun haben – oder lediglich mit einem vorübergehenden Wiederaufleben unter dem Druck aktueller Krisen.

Was sicher ist: Die Welt ist in Bewegung. Während in Westeuropa Rückbau und Atomausstieg die Schlagzeilen bestimmten, bauen andere Regionen – vor allem in Asien und Osteuropa – neue Reaktoren oder steigen erstmals in die Technologie ein. Gleichzeitig investieren etablierte Industriestaaten in neue Reaktorkonzepte, insbesondere Small Modular Reactors, in der Hoffnung, die klassischen Schwächen der Kernenergie – hohe Kosten, lange Bauzeiten, Akzeptanzprobleme – zumindest abzumildern. Ob das gelingt, ist offen. Aber die bloße Tatsache, dass daran gearbeitet wird, markiert bereits einen Paradigmenwechsel.

Die wissenschaftliche Bewertung fällt differenziert aus: Die Kernkraft kann – unter bestimmten Voraussetzungen – ein relevanter Baustein für die Dekarbonisierung sein. Sie ist nicht die Lösung, aber auch nicht das Problem per se. In vielen Klimaszenarien kommt sie vor, in manchen sogar prominent. Doch ihr Beitrag ist abhängig von politischen Rahmenbedingungen, gesellschaftlicher Akzeptanz und der Fähigkeit, Investitionen und Projekte verlässlich umzusetzen. Daran mangelt es bislang noch allzu oft.

Für die Energiepolitik bedeutet das: Es braucht Klarheit. Wer Kernenergie will, muss sie politisch absichern – mit realistischen Zeitplänen, transparenter Regulierung und Investitionsanreizen. Wer sie ablehnt, sollte gleichzeitig beantworten können, wie Versorgungssicherheit und Klimaziele ohne sie verlässlich erreicht werden können. Die beliebte Strategie des „Abwartens und Hoffens auf bessere Alternativen“ hat in der Vergangenheit selten überzeugt – und sie wird angesichts der globalen Herausforderungen zunehmend riskant.

Für Investoren heißt das: Atomkraft bleibt ein Hochrisikospiel. Wer heute auf Kernenergie setzt, tut das mit langem Atem und erheblichen Unsicherheiten. Staatliche Garantien, Projektbündelung und internationale Kooperationen könnten helfen, dieses Risiko zu reduzieren. Aber klar ist auch: Die Konkurrenz schläft nicht. Erneuerbare Energien werden stetig günstiger, flexibler und schneller verfügbar. Wenn die Kernkraft hier mithalten will, muss sie sich technologisch und ökonomisch neu erfinden.

Und für die öffentliche Debatte? Hier wäre ein wenig mehr Nüchternheit hilfreich. Die Polarisierung – zwischen romantisierter Fortschrittshoffnung und pauschaler Untergangsrhetorik – hilft wenig. Es geht nicht um Glaubensfragen, sondern um Optionen. Und diese sollten anhand von Daten, Realitäten und Zukunftsmodellen bewertet werden – nicht entlang ideologischer Trennlinien, die aus den 1980er-Jahren in die Gegenwart gerettet wurden.

Am Ende wird die Zukunft der Kernenergie nicht allein durch Technik entschieden. Sondern durch Vertrauen. Vertrauen in Sicherheitskonzepte, in politische Verantwortung und in die Fähigkeit, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Ob dieses Vertrauen (wieder) wachsen kann, wird sich zeigen.

Aber dass wir darüber wieder reden – offen, kontrovers, faktenbasiert – ist vielleicht schon der wichtigste Schritt.

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