An der Strombörse erfolgt die Preisfindung derzeit nach dem sogenannten „Merit-Order-Prinzip„. Das bedeutet, dass Stromanbieter an der Börse individuelle Preise für ihr Lieferungen abgeben (bids), während die Stromnachfrager benötigte Mengen hinterlegen (ask). Der Börsenalgorithmus stellt fest, welcher Preis notwendig ist, um die gesamte, nachgefragte Menge zu produzieren. Dieser Preis wird dann einheitlich als Börsenstrompreis für den Handelszeitraum festgelegt (uniform pricing). Der Markträumungspreis (market clearing price) wird im sogenannten Pay-as-Clear-Verfahren festgelegt, bei dem jeder Anbieter zum gleichen Marktpreis kontrahiert, unabhängig von seinem ursprünglichen, individuellen Angebot. Das Verfahren führt dazu, dass der Markt „geräumt“ wird, dass also die gesamte Nachfrage bedient wird (vorausgesetzt, es gibt genügend Angebot). Kein Nachfrager kommt aus Preisgründen nicht zum Zuge. Außerdem stellt das Verfahren sicher, dass Anbieter mit niedrigen Grenzkosten hohe Deckungsbeiträge erwirtschaften und Anbieter mit hohen Grenzkosten niedrige Deckungsbeiträge, so dass ein marktwirtschaftlicher Anreiz zur Grenzkostensenkung aufrecht erhalten wird und Erzeugungsanlagen mit niedrigen Grenzkosten (i.d.R. Erneuerbare) mit hohen Renditen rechnen können.
Exkurs: Da erneuerbare Energieträger in der Regel Grenzkosten nahe Null aufweisen führt das Merit-Order-Prinzip außerdem dazu, dass konventionelle Energieträger seltener eingesetzt und damit unrentabler werden – aber um diese Besonderheit soll es hier nicht gehen.
Die Preisfindung an der Strombörse erfolgt wie bei einer Versteigerung, bei der die Anbieter auf eine festgelegte Nachfrage bieten. Dieses Prinzip gibt es auch in anderen Bereichen, beispielsweise bei der Ausschreibung von EEG-geförderten Windenergieanlagen. Auch hier wird die Nachfragemenge festgelegt und Anbieter geben Preisgebote ab: die wirtschaftlichsten Gebote erhalten den Zuschlag und werden nach dem EEG gefördert.
Das Merit-Order-Prinzip bedeutet letztlich nur, dass Angebote in einer Versteigerung nach Wirtschaftlichkeit geordnet und entsprechend bezuschlagt werden – der Begriff kann am Besten mit „Zuschlagsreihenfolge“ übersetzt werden. Dass das wirtschaftlichste Gebot den Zuschlag bekommt ist das Grundprinzip jeder Versteigerung, unabhängig davon, ob Nachfrager auf ein fixes Angebot bieten oder ob Anbieter auf eine fixe Nachfrage bieten. Eine „Aufgabe“ des Merit-Order-Prinzips ist also kaum vorstellbar und auch nicht sinnvoll. Eine simple Modifikation könnte aber dazu beitragen, Übergewinne auf Anbieterseite zu vermeiden.
Der durch Auktion festgelegte Preis muss nämlich nicht einheitlich sein. Da jeder Anbieter einen individuellen Preis vorgelegt hat könnte man die zum Zuge kommenden Anbieter, deren Angebotspreis unter dem Gleichgewichtspreis liegt, auch mit dem individuell angeboteten Preis bezuschlagen. Es ist nicht zwingend erforderlich, einen einheitlichen Markträumungspreis festzulegen. Dieses Bepreisungsmodell wird as „Pay-as-Bid“ beschrieben, im Gegensatz zum derzeitigen „Pay-as-Clear“. Das Modell ist nicht neu: die Bepreisung von Regel- und Ausgleichsenergie erfolgt in Deutschland schon lange im „Pay-As-Bid“-Verfahren, in Übereinstimmung mit Empfehlungen der europäischen Regulierungsbehörde ACER. Auch in der Ausschreibung von EEG-Förderungen auf Photovoltaik-Freiflächenanlagen erfolgt die Bezuschlagung nach „Pay-as-Bid“. Auch bei diesem Verfahren wird eine Markträumung sichergestellt, denn die Nachfragemenge setzt den Gleichgewichtspreis.
Mit einer „Pay-as-Bid“-Bepreisung bildet sich der Börsenstrompreis als Durchschnittspreis, der deutlich unter dem Grenzpreis liegt. Es werden jedoch keine Erzeugungskapazitäten aus dem Markt gedrängt, auch teure Anbieter kommen zum Zuge, wenn entsprechende Nachfrage vorhanden ist. Des weiteren bleiben marktwirtschaftliche Preisfindungsmechanismen erhalten: Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis, eine Preisfestsetzung durch den Staat erfolgt nicht. Dieses Verfahren bietet daher eine charmante Möglichkeit, Börsenstrompreise zu begrenzen, ohne die „unsichtbare Hand“ des Marktes außer Kraft zu setzen.
Der Nachteil beim Pay-as-Bid-Verfahren ist, dass die durchschnittlichen Angebotspreise höher ausfallen, weil Anbieter nicht mehr damit rechnen können, dass der Markträumungspreis automatisch einen Margenaufschlag beinhaltet. Es ist davon auszugehen, dass die Angebotspreise höhere Sicherheitsaufschläge für Margen und Deckungsbeiträge beinhalten. Außerdem ist insbesondere bei Anbietern mit niedrigen Grenzkosten mit deutlichen Renditeeinbrüchen zu rechnen. Da die Erzeuger mit den niedrigsten Grenzkosten erneuerbare Anlagen sind, würden ausgerechnet Erneuerbare durch diese Bepreisungsmethode gebremst. Fairerweise muss man allerdings sagen, dass derzeit erneuerbare Energieträger – insbesondere direkt vermarktete – in erheblichem Maße von den hohen Börsenstrompreisen profitieren, sogar so sehr, dass die Erhebung einer EEG-Umlage beim Endkunden zur Finanzierung der garantierten EEG-Vergütungen gar nicht mehr notwendig ist.
Trotz der schwierigen Situation an den Strommärkten wird über Alternativen zum derzeitigen Merit-Order-Verfahren mit einer einheitlichen Marktbepreisung („Pay-as-Clear“, Uniform Pricing) bisher wenig diskutiert. Der österreichische Europaabgeordnete Lukas Mandl (EVP) stellte im August 2022 eine Anfrage an die EU-Kommission und bat um Auskunft, welche Alternativen zum Merit-Order-Prinzip von der Kommission als zielführend angesehen werden. Eine Antwort steht noch aus. Die Bundestagsabgeordnete Maria-Lena Weiss (CDU) stellte, ebenfalls im August, eine Anfrage an den Staatssekretär Dr. Patrick Graichen, und fragte an, ob die Bundesregierung eine Abschaffung des Merit-Order-Prinzips plane und ob es Planungen gebe, den Strom- vom Gaspreis zu entkoppeln. Der Staatssekretär führt in seiner Antwort recht vage aus, dass auf nationaler und europäischer Ebene „verschiedene Modelle“ diskutiert werden, wie die Strompreise für Verbraucher gesenkt werden können.
Die europäische Regulierungsbehörde ACER beschäftigte sich im Oktober 2021 mit den bereits damals als hoch empfundenen Stromkosten und den Ursachen dafür und untersuchte auch die Auswirkungen des derzeitigen „Pay-as-Clear“-Modells. Seinerzeit überwogen aus Sicht von ACER die Vorteile des „Pay-as-Clear“-Modells, weil hier tendenziell insbesondere für Erzeuger mit niedrigen Grenzkosten hohe Erträge winken, was die Rentabilität von Erneuerbaren verbessert. Die Liquidität im Markt für erneuerbare Anlagen hoch zu halten schien damals wichtiger, als Umsatzvolumina im Stromhandel zu begrenzen. Zitat: „Perspektivisch drehten sich bis vor kurzem die meisten Diskussionen um ein sich entwickelndes Strommarktdesign um die Frage, ob ein Markt, der von einer Erzeugung mit niedrigen Grenzkosten dominiert wird, in der Lage wäre, für die Marktteilnehmer ‚genug Geld zu verdienen‘. Dies scheint im Gegensatz zu einigen aktuellen Diskussionen zu stehen, die sich anscheinend mehr darauf konzentrieren, ob Erzeuger ‚zu viel Geld verdienen‘. Aus Sicht von ACER bestehen einige grundlegende Fragen rund um die Zukunft des Strommarktdesigns fort und bleiben relevant. Diese Fragen drehen sich jedoch mehr um die erstere Frage (genügend Geld verdienen) als um die letztere (zu viel verdienen).“ (Eigene Übersetzung). Kurz gesagt: „zu viel verdienen“ war aus Sicht von ACER kein Thema, das angegangen werden müsste. Da die Strompreise im Großhandel seitdem noch einmal deutlich angezogen haben ist diese Schlussfolgerung wohl zu hinterfragen. So stellte auch ACER bereits fest: „Die vorgenannten Überlegungen implizieren nicht notwendigerweise, dass das aktuelle Marktdesign für alle Absichten und Zwecke ‚zukunftssicher‘ ist.“ (Eigene Übersetzung).
Mit einer einfachen Änderung der Bepreisungsmethodik an der Strombörse könnten also Übergewinne verringert und die Strompreise gesenkt werden, ohne dass benötigte Erzeugungskapazitäten nicht mehr auf ihre Kosten kämen und aus dem Markt gedrängt würden. Natürlich hat jede Methode auch Nachteile. Aber bei Strompreisen von mehr als einem Euro pro Kilowattstunde, die derzeit teilweise bereits erreicht und übertroffen werden, sollte jede Möglichkeit genutzt werden.
Also: worauf warten wir?