Am 2. September 2021 befreite der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) die Bundesnetzagentur von den lästigen Fesseln demokratischer Kontrolle und Aufsicht und schrieb deren Unabhängigkeitserklärung. Das Urteil ist zwar nicht in der pathetischen Sprache der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung gehalten („We hold these truths to be self-evident…“), schlägt aber in die gleiche Kerbe, dass die Energieregulierung sich nämlich von externen Einmischungen und Mitbestimmungen zu befreien und fortan unabhängig zu existieren habe. Nur dass die unverschämte „externe Einmischung“ von einem gewählten Parlament ausgeht…
Der europäische Gerichtshof hatte zu prüfen, ob das deutsche Regulierungsregime, das ausgehend von entsprechenden Ermächtigungen im EnWG im Wesentlichen auf diversen Verordnungen fußt, rechtskonform mit der Elektrizitäts- und Gasbinnenmarktrichtlinie ist. Die EU-Kommission war der Auffassung, dass das nicht der Fall ist und hatte daher nach einem Vertragsverletzungsverfahren in 2017 eine Klage beim EuGH eingereicht. Der Inhalt der Verordnungen stand dabei nicht zur Debatte, vielmehr wurde kritisiert, dass der Inhalt der Verordnungen nicht von der Bundesnetzagentur als Regulierungsbehörde festgelegt wurde, sondern von der Bundesregierung (die durch den Gesetzgeber dazu ermächtigt wurde).
Die Elektrizitäts- und Gasbinnenmarktrichtlinien sehen nämlich vor, dass es unabhängige Regulierungsbehörden geben muss (Artikel 35 der RL), wobei die Unabhängigkeit sich sowohl auf die regulierten Marktteilnehmer bezieht als auch auf „politische Stellen“. Nach Auffassung des EuGH bezieht sich diese Unabhängigkeit nicht nur auf die Um- und Durchsetzung der Verordnungsinhalte, sondern auch auf die Festlegung der Vorgaben zur Regulierung selbst. Die Bundesnetzagentur hätte also entscheiden müssen, ob es eine Anreizregulierung gibt und wie diese ausgestaltet wird (derzeit in der Anreizregulierungsverordnung geregelt), wie die Netzentgelte gebildet werden (derzeit: StromNEV/GasNEV), welche Bedingungen für den Netzzugang gelten (derzeit: StromNZV, GasNZV) und vieles mehr. Die Tendenz, den Regulierungsbehörden weitgehende Entscheidungsspielräume zuzugestehen, zeichnete sich auch in der deutschen Rrchtsprechung bereits seit längerem ab, da die meisten Klagen, die sich auf die Festlegung regulatorischer Parameter, beispielsweise die Eigenkapitalzinssätze oder die Produktivitätsfaktor richteten, mit dem Verweis auf den Ermessensspielraum der Behörde abgeschmettert wurden.
Vorbild für diese „unabhängige“ Regulierungsbehörde ist die europäische Zentralbank. In der Finanzwirtschaft (zumindest in der westlichen Welt, speziell in Deutschland) gilt es als sinnvoll, Zentralbanken vom Einfluss der Regierungen zu entkoppeln, um zu verhindern, dass diese geldpolitische Entscheidungen treffen müssen, die dem übergeordneten Ziel „Geldwertstabilität“ entgegenwirken. Zentralbanken sollen allein ihrem satzungsmäßigen Zweck der Inflationsvermeidung verpflichtet sein, alle anderen geldpolitischen Ziele sind im Zweifel nachrangig. Um das zu erreichen hat man die europäische Zentralbank, wie zuvor auch die Bundesbank, weitgehend von politischen Einflüssen befreit (ob das gelungen ist angesichts der Einflusses und der Besetzung des EZB-Rats soll an dieser Stelle dahingestellt sein).
In gleicher Weise sollen auch die Monopolregulierungsbehörden der Länder „unabhängig“ sein und allein ihrem definierten Zweck verpflichtet sein. Es lohnt sich zu fragen: warum eigentlich? Welchen heiligen Zweck müssen diese Behörden denn um jeden Preis beschützen? Welche zweckfremde „Einmischung“ der Regierung droht, wenn diese Behörden nicht unabhängig genug sind?
Die Ziele der Regulierung sind in den Elektrizitäts- und Gasbinnenmarktrichtlinien als allgemeine Erwägungsgründe vorangestellt und teilweise auch in den Richtlinien selbst ausformuliert. Es gibt aber – anders als bei der Zentralbank – nicht das eine, überragende Ziel, dem alles andere unterzuordnen wäre. Vielmehr zeigt sich eine Mannigfaltigkeit kleinteiliger Teilziele, beispielsweise „Anpassung des Elektrizitätsnetzes an die variable und dezentrale Erzeugung erneuerbarer Elektrizität“, „freier Marktzugang für die einzelnen Versorger“, „mit den Marktpreisen die richtigen Impulse für den Ausbau des Netzes und für Investitionen in neue Stromerzeugungsanlagen setzen“, „Hindernisse für einen Versorgerwechsel auf ein Mindestmaß reduzieren“, „freie Versorgerwahl“ und viele mehr.
In Bezug auf die Regulierung von Energienetzen ist in den Richtlinien lediglich folgendes festgelegt:
- Die Netzentgelte müssen so gestaltet werden, dass „die Lebensfähigkeit der Netze gewährleistet ist“.
- Es müssen „angemessene Anreize geschaffen werden, sowohl kurzfristig als auch langfristig die Effizienz zu steigern, die Marktintegration und die Versorgungssicherheit zu fördern“.
Ziemlich schwammig. Alles weitere, was bis jetzt in Deutschland in Verordnungen geregelt ist, soll nach den Vorstellungen der Kommission und des EuGH die Regulierungsbehörde festlegen. Die Behörde soll also umfangreich gesetzgeberisch tätig werden. Allein das ist schon schwer mit einem demokratischen Rechtsverständnis zu vereinbaren. Besonders problematisch ist aber, dass die Behörde neben der Legislative auch die anderen zwei Gewalten, die Judikative und die Exekutive, in sich vereint und die Gewaltentrennung daher vollends aufgehoben wird!
Grundsätzlich wird es natürlich jederzeit möglich sein, gegen Entscheidungen der Bundesnetzagentur eine Klage einzureichen und diese gerichtlich überprüfen zu lassen. Gerichte können Festlegungen der Bundesnetzagentur jedoch letztlich nur darauf abklopfen, ob sie mit dem geltenden Recht vereinbar sind. Genau dieses Recht soll die Bundesnetzagentur aber in Zukunft selbst setzen dürfen. Die Binnenmarktrichtlinien als übergeordnete Normen enthalten nur ein grobes Gerüst, das in den Mitgliedsländern erst noch legislativ ausgefüllt werden muss. Die Bundesnetzagentur müsste also gegen ihre eigenen Rechtsfestsetzungen handeln, um überhaupt eine erfolgversprechende Klage einleiten zu können. Das dürfte wohl selten der Fall sein. In extremen Konstellationen wäre es sogar denkbar, dass die Behörde ihre Rechtsfestsetzung einfach anpasst, um Rechtskonformität herzustellen. Frei nach dem Motto: ich mache mir einfach die Gesetze, die ich brauche.
Auch die dritte Gewalt, die Exekutive, liegt bei der Bundesnetzagentur, denn diese ist – und war immer schon – berechtigt, ihre Festlegungen durchzusetzen. In der aktuellen Gasmangellage hat die Bundesnetzagentur für einen Teilbereich, nämlich die Gasrationierung, sehr detailliert dargelegt, wie man dabei vorgehen will, wenn es erforderlich ist. Zur Umsetzung von Anordnungen der Behörde ist durchaus denkbar, mit Amtshilfe der Polizei, also unter Anwendung staatlicher Gewalt, Gasabschaltungen durchzusetzen. Erst schafft man sich also seine eigene gesetzliche Grundlage, dann setzt man diese durch und schließlich entzieht man sich im Großen und Ganzen auch noch dem Zugriff der Justiz.
Es ist schwer nachvollziehbar, warum ein derart hohes Maß an Unabhängigkeit erforderlich sein soll, um die diffusen Ziele der Binnenmarktrichtlinien durchzusetzen. Darüber hinaus bleibt es bei einer Zielpluralität nicht aus, dass diese gewichtet und priorisiert werden müssen. Soll die Regulierungsbehörde in erster Linie eine Verbraucherschutzbehörde sein, die günstige Endkundenpreise zu Lasten der Renditen der Netzbetreiber erzwingt? Oder soll die Energiewende durch attraktive Investitionsbedingungen für Stromnetzbetreiber gefördert werden? Diese Ziele widersprechen sich. Soll die Abwägung von Zielen und Prioritäten denn nun tatsächlich „unabhängigen“ Beamten obliegen und nicht mehr gewählten Volksvertretern?!
Wie in Deutschland mit dem Urteil des EuGH umgegangen werden soll und wann die bisherigen Verordnungen abgeschafft und durch Festlegungen der Bundesnetzagentur ersetzt werden, wird derzeit noch geprüft. Es bleibt zu hoffen, dass wenigstens irgendeine Form von Kontrollinstanz erhalten bleibt. In Österreich hat man sich beispielsweise entschlossen, die staatliche Regulierungsbehörde „E-Control“ um einen Beirat, einen Aufsichtsrat sowie eine Regulierungskommission zu ergänzen. Eine ähnliche Stärkung der Einflussnahme und Kontrolle bei der Bundesnetzagentur wäre wünschenswert.
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die von der EU geforderte und nunmehr auch durchgesetzte Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur kaum zu begründen ist. Eine Einmischung und Mitwirkung der Politik in der Netzregulierung ist nicht schädlich, sondern wünschenswert und entspricht dem demokratischen Grundgedanken. Eine diesbezügliche Anpassung der europäischen Richtlinien sollte daher Ziel deutscher Politik sein. An dem Grundsatz „Der Staat bin ich!“ sind schon andere gescheitert – zurecht.