Deutschland hat den teuersten Strom Europas. Kann man dann nicht einfach seinen Strom im Ausland kaufen, beispielsweise in Frankreich? Bis vor kurzem habe ich darauf immer mit „ja“ geantwortet. Aber eigentlich ist es nicht so einfach…
Der europäische Binnenmarkt: wo soll’s denn geliefert werden?
Die Länder der EU bilden einen einheitlichen Binnenmarkt, das ist der Kern dieser Gemeinschaft. Waren und Dienstleistungen können in jedem beliebigen Land der EU gekauft und in jedes andere Land der EU transportiert werden, ohne dass das jemand untersagen oder mit Zöllen belegen dürfte.
Das gilt natürlich auch für Strom: wer ein Windrad in Deutschland, ein Kohlekraftwerk in Polen oder ein Kernkraftwerk in Frankreich betreibt, kann seinen Strom in der ganzen EU verkaufen. Auch Großhändler können grenzübergreifend tätig sein: einkaufen in Frankreich, verkaufen in Polen ist im Prinzip kein Problem.
Wie bei jeder Ware muss auch beim Strom geregelt werden, an welchen Ort geliefert werden soll, denn „Abholung beim Produzenten“ scheidet in der Regel aus. Bei Endverbrauchern wird zur Übergabe in der Regel ein Stromzähler angegeben. Im Großhandel und an der Börse läuft das anders: hier wird angegeben, in welche „Regelzone“ der Strom geliefert werden soll.
Eine Regelzone ist ein geografisches Gebiet, in dem ein Übertragungsnetzbetreiber für die Stabilität des Netzes verantwortlich ist, also eine gleichbleibende Spannung und Frequenz sicherstellt. In Deutschland gibt es vier Regelzonenbetreiber, die jeweils für Teile von Deutschland zuständig sind:
- Amprion (West- und Südwestdeutschland)
- TenneT (Norddeutschland und Teile von Bayern)
- 50Hertz (Ostdeutschland und Teile von Norddeutschland)
- TransnetBW (Baden-Württemberg)
Bei der Lieferung von Strom muss also angegeben werden, in welche dieser Regelzonen geliefert werden soll. Wenn aber das Kraftwerk in der Regelzone „Amprion“ steht und der Käufer in der Regelzone „TransnetBW“, so ist das kein Problem, denn Energie kann zwischen den vier deutschen Regelzonen in beliebiger Menge und ohne Kosten übertragen werden. „Deutschland ist eine Kupferplatte“ ist eine Metapher, die jedem Neuling in der Energiewirtschaft um die Ohren gehauen wird. Soll heißen: man kann Strom in beliebiger Menge von jeder Ecke der Republik in jede andere Ecke übertragen, es gibt kein Limit.
Risse in der „Kupferplatte“
Diese Metapher stimmt mit der physikalischen Realität nicht mehr überein, denn natürlich haben die überregionalen Stromleitungen Kapazitätsgrenzen. Manchmal werden Geschäfte abgeschlossen, die physikalisch gar nicht umsetzbar sind. Insbesondere die Windstromerzeugung im Norden lässt sich häufig nicht bis zu den Industriezentren im Süden durchleiten. Weder die Windmüller noch die Industrie bekommen davon etwas mit, denn jede Lieferung zwischen zwei deutschen Regelzonen muss von den Übertragungsnetzbetreibern ausgeführt werden, diese müssen die Durchleitung garantieren. Geht nicht, gibt’s nicht.
Wenn das aber physikalisch gar nicht möglich ist, müssen die Regelzonenbetreiber für Ersatz sorgen: sie beauftragen dann Kraftwerke im Süden, den nötigen Strom zu erzeugen und lassen die Windräder im Norden gegen Entschädigung abregeln. Das nennt sich euphemistisch „Redispatch“ und verursacht gewaltige Kosten: in 2023 waren 3,1 Milliarden € und in 2022 sogar 4,2 Milliarden € erforderlich, um diese Ausgleichsmaßnahmen zu finanzieren. Die Redispatch-Kosten werden von den Netzbetreibern in die Netzentgelte eingepreist und damit von allen Stromkunden bezahlt.
Eigentlich sollten Lieferungen zwischen verschiedenen Regelzonen nur in dem Maße zulässig sein, wie sie auch physikalisch umsetzbar sind. Wenn die Fiktion „Deutschland ist eine Kupferplatte“ der Realität entsprechen würde, gäbe es keine Redispatch-Kosten.
Leider hat man diese falsche Metapher faktisch zementiert, in dem man die vier deutschen Regelzonenbetreiber – zusammen mit dem luxemburgischen Übertragungsnetzbetreiber „Creos Luxembourg S.A.“ – zu einer sogenannten „Preiszone“ zusammengefasst hat. Innerhalb einer Preiszone obliegt es den zusammengefassten Regelzonenbetreibern, physikalische Limitationen auszugleichen, also Redispatch zu betreiben.
Grenzüberschreitender Handel
Zwischen zwei verschiedenen Preiszonen sieht es anders aus. So gibt es auch in Frankreich beispielsweise eine Regelzone – landestypisch tatsächlich nur eine einzige –, die vom Übertragungsnetzbetreiber Réseau de Transport d’Électricité (RTE) verantwortet wird. Die französische Regelzone ist gleichzeitig die französische Preiszone. Lieferungen zwischen der französischen Preiszone und der deutsch/luxemburgischen Preiszone sind aber nicht ohne Beschränkung möglich!
Denn physikalisch können zwischen den Ländern nur etwa 3,5 Gigawatt übertragen werden, das ist die Kapazität der sogenannten „Koppelpunkte“. Diese Leistung entspricht etwa der Volllast von drei Atomkraftwerken.
Wie wird diese Koppelkapazität zwischen Frankreich und Deutschland nun zugewiesen? Wird es ausgelost, wer diese nutzen darf? Oder kann man die Kapazität lange im Voraus buchen? Nein, es ist der Preismechanismus, der entscheidet. Denn die Zuweisung von grenzüberschreitenden Kapazitäten erfolgt in Europa hauptsächlich über die Spotmärkte an den Börsen: die Anzahl und Menge der handelbaren Börsenkontrakte ist limitiert auf die Koppelkapazität. Wer seinen Strom an der Börse grenzüberschreitend verkauft, bekommt automatisch auch die nötige Koppelkapazität zugestanden. Mehr Verkäufe als physikalisch möglich sind werden durch den Handelsalgorithmus der Börse, „EUPHEMIA“ genannt, nicht zugelassen.
Es können also maximal soviele Stromverkäufe länderübergreifend abgewickelt werden, wie auch physikalisch möglich sind. Preiszonenübergreifendes Redispatching gibt es also – eigentlich – nicht, Ausnahmen bestätigen die Regel. Fest steht aber: zwischen zwei Preiszonen sind die Kapazitäten limitiert und der Handel ist daher eingeschränkt.
Folgen der Handelsbarrieren
Das sollte aufhorchen lassen: denn eigentlich widerspricht ein eingeschränkter Handel dem Grundgedanken der europäischen Freihandelszone. Die Begrenzung durch Koppelkapazitäten und Preiszonen ist ungefähr so, als würden pro Tag nur eine bestimmte Anzahl Lkws die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland passieren dürfen.
Diese Limitation hat durchaus wesentliche Konsequenzen. An den Börsen werden pro Preiszone Strompreise gebildet. Die Preise in Frankreich (und anderen europäischen Ländern) weichen teilweise erheblich von den deutschen Strompreisen ab. Normalerweise müsste das Arbitrage-Händler auf den Plan rufen. Wenn die Volkswagen-Aktie an der Frankfurter Börse billiger ist als an der Börse in Düsseldorf, findet sich in der Regel schnell jemand, der die Aktie in Frankfurt kauft und in Düsseldorf verkauft, um einen Gewinn zu machen. Als Ergebnis der Transaktion gleichen sich die Preise an. Im Stromhandel geht das nur begrenzt, denn grenzüberschreitende Stromlieferungen sind beschränkt.
Darüber hinaus führt die Vergabe der Koppelkapazitäten hauptsächlich über den Spotmarkthandel dazu, dass es kaum grenzüberschreitenden Terminhandel gibt. Nur ein geringer Teil der Übertragungskapazität wird für den Terminhandel reserviert. Ein Kraftwerksbetreiber, der seine Erzeugung im kommenden Jahr heute schon im Rahmen eines Termingeschäfts vermarkten möchte, kann das vielleicht gar nicht grenzüberschreitend tun, weil er die Lieferung nicht garantieren kann. In der Metapher mit den Lkw: er bekommt vielleicht keinen Lkw-Passierschein…
Kann ich jetzt meinen Strom in Frankreich kaufen?
Zurück zur Ausgangsfrage: kann man einfach seinen Strom im Ausland kaufen, beispielsweise in Frankreich? Ja, man kann. Aber wer Strom zur Lieferung in die Preiszone „Deutschland/Luxemburg“ bestellt, wird an der Börse auch den Preis der deutschen Preiszone bezahlen müssen. Und ein Termingeschäft wird vielleicht daran scheitern, dass die Lieferung über die Koppelstellen nicht garantiert werden kann.
Fazit: Ein unvollendeter Binnenmarkt
Die Märkte für Strom sind in der EU also noch immer stark fragmentiert, jedes Land kämpft bis zu einem gewissen Grad für sich. Die Koppelkapazitäten dienen eher dem kurzfristigen Ausgleich von Lastengpässen. Ein echter Binnenmarkt, auf dem man unbeschränkt handeln kann, ist das noch nicht. Und so lange das so ist, wird der Strompreis in einer Preiszone auch stark vom Kraftwerkspark in der jeweiligen Preiszone abhängen. Es wird keinen europäischen Strompreis geben.
Besserung ist nicht in Sicht. Tatsächlich wurde – und wird – ja überlegt, ob man die einheitliche deutsche Preiszone nicht sogar aufteilen müsste in eine südliche Preiszone und eine nördliche Preiszone. Denn die einer Preiszone zugrunde liegende Fiktion, dass man unbegrenzt Strommengen übertragen kann, stimmt in Deutschland so nicht mehr. Jedenfalls so lange nicht, bis bereits geplante, zusätzliche Übertragungsleitungen zwischen dem Norden und dem Süden der Republik (bspw. „Südlink“) endlich fertiggestellt sind.
Eine „geteilte Republik“ wäre nichts Ungewöhnliches: in Schweden gibt es sage und schreibe vier Preiszonen und in Norwegen sogar fünf. Auf diese Weise werden physikalische Realitäten und Handelszonen in Übereinstimmung gebracht und netzbetreiberseitige Ausgleichsmaßnahmen reduziert. Aber das hat natürlich auch Nachteile: in Deutschland würde Strom im Süden teurer werden, weil der günstige Windstrom aus dem Norden nur noch begrenzt zur Verfügung stünde. Im Norden wäre es umgekehrt. Aus diesem Grunde finden die Bayern und Baden-Württemberger diese Idee auch eher blöd, während die Nordländer dem Konzept etwas abgewinnen können…
Und wie geht’s weiter?
Ist die aktuelle Situation, dass der grenzüberschreitende Stromhandel in der EU beschränkt ist, ein Problem? Das kommt drauf an. Im Prinzip funktioniert das System und Stromausfälle sind in keinem europäischen Land zu befürchten. Der Strompreis in den einzelnen Ländern hängt eben stark vom nationalen Kraftwerkspark ab. Und was das angeht, setzen die Länder ganz unterschiedliche Schwerpunkte. Frankreich will die Atomkraft beibehalten und sogar stärken, während Deutschland sich auf Erneuerbare und Wasserstoff verlassen will. Ob am Ende der deutsche oder der französische Strom billiger sein wird, wird sich zeigen. Im Moment ist die französische Preiszone meistens günstiger.
Unabhängig von konkreten Erzeugungspreisen ist eine Stärkung des europäischen Binnenhandels aber vorteilhaft. Damit könnten die Resilienz des Gesamtsystems gestärkt und Synergien gehoben werden. Die EU wurde immerhin in dem festen Glauben daran gegründet, dass unbeschränkter Handel letztlich allen nützt. Warum sollte das beim Stromhandel anders sein?