Lacht das Ausland über unsere Energiewende? Machen wir wirklich “die dümmste Energiepolitik der Welt”?
Es ist weltweiter Konsens, dass Klimaneutralität spätestens in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts erreicht werden muss. Über Wege zur Treibhausgasneutralität wird zwar gestritten, im Grundsatz sind sich aber die meisten Länder einig. Neben einem dramatischen Ausbau der Erneuerbaren sollen Effizienzverbesserungen, Kernenergie, Batteriespeicher, grüner Wasserstoff und CO2-Speichertechnologien einen Beitrag leisten.
Viele Länder wollen fossile Energieträger weiter nutzen, bis die Erneuerbaren ausreichend ausgebaut sind. In China werden daher heute noch neue Kohlekraftwerke errichtet.
Deutschland sticht – insbesondere bei Betrachtung der Industrieländer – etwas heraus. Wir haben zwar viel früher als andere damit angefangen, Erneuerbare auszubauen. Bezogen auf den Primärenergieverbrauch sind aber trotzdem nur 17% unserer Energie erneuerbar (Frankreich: 13%) und eine Kilowattstunde Strom trägt bei uns einen CO2-Rucksack von 381 Gramm pro Kilowattstunde (Frankreich: 56 g/kWh, Italien: 224 g/kWh, Spanien: 166 g/kWh).
Wir wollen ohne Kernkraft klimaneutral werden, während viele unserer Nachbarn den Atomausstieg verschieben (Belgien), aufheben (Schweden) oder sogar neue Atomkraftwerke bauen wollen (Bulgarien, Frankreich, Niederlande, Polen, Schweden, Slowakei, Ungarn).
Die Anwendung von CO2-Speichertechnologien (#CCS) hatten wir ursprünglich durch das Kohlendioxid-Speichergesetz faktisch verboten und erst vor kurzem – ein bisschen – wieder erlaubt.
Den Kohleausstieg haben wir bereits gesetzlich festgezurrt, ohne eine Idee zu haben, wie die Kraftwerke bei Dunkelflauten ersetzt werden können.
Und wir schütten Subventionen für Erneuerbare deutlich mehr mit der Gießkanne aus als andere Länder. Im Rahmen des EEG wurden seit Einführung im Jahr 2000 rund 220 Milliarden € an Anlagenbetreiber ausgezahlt. Zum Vergleich: der Inflation Reduction Act (#IRA) der USA (mit einem sechsmal höheren Bruttoinlandsprodukt) umfasst 369 Milliarden Dollar. Arbeitsplätze in der Solarindustrie sind trotzdem vor allem in China entstanden…
Wenn also das Wall Street Journal in einem Artikel aus dem Jahr 2019 zu Deutschlands Energiepolitik titelt “World’s Dumbest Policy”, um dann im Jahr 2023 hämisch nachzulegen mit “Coal Keeps Germany’s Lights On”, dann trifft das bei vielen einen Nerv.
Relativierend muss man sagen, dass das Wall Street Journal eine sehr konservative Ausrichtung hat und dass die Artikel Meinungsbeiträge sind. Tatsächlich aber reagiert man in vielen Ländern mit Befremden auf die kompromisslose Art der Selbstverstümmelung, mit der wir unsere Energiewende umsetzen, die oft genug nach dem Motto “lieber tot als zweiter” zu laufen scheint.
Etwas mehr Demut und weniger missionarische Grundeinstellung stünden uns also gut zu Gesicht. Wer viele Dinge anders macht als andere, ist entweder viel schlauer als alle anderen – oder das Gegenteil…